Aus der Biographie von Martin Clemen (1918-1967)

2018 verfasst von Thomas Clemen



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Im Mai 1941 war ihm das Kommando eines Minensuchbootes vor der norwegischen Küste übertragen worden. Das bedeutete nicht ungefährlichen Einsatz:
Seeminen, das sind etwa zwei Meter messende, auf See latent fixierte Kugelkörper mit herausragenden Sensoren, sollten in ihrer Eigenschaft als „schwimmende Bomben“ den zivilen wie militärischen Schiffsverkehr stören, mussten also für die Passage eigener Schiffe aufgespürt und entschärft werden. Diese Aufgabe erfüllte unser Vater mit seiner Mannschaft anscheinend erfolgreich: schon wenig später übernahm er in Kiel das Kommando einer Minensuchflottille mit 6 Booten (s.Foto) unter dem Befehlshaber Admiral Friedrich Ruge (1894-1985), der 1956 erster Inspekteur der Bundesmarine werden sollte.
Der Seekrieg im Nordatlantik und vor Norwegen hatte der deutschen Kriegsmarine mittlerweile starke Verluste eingebracht, sodass die militärischen Kräfte auf küstennahe Operationen mit Schnellbooten und Minensuchflottillen konzentriert wurde. In dieser Mission gelangte Martin mit seiner Einheit an die französische Atlantikküste.



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Im Hafen von Brest erlebte er einen Fliegerangriff, bei dem mehrere Bomben direkt neben seinen kleinen Booten, eigentlich umgebaute Fischtrawler, explodierten und massive Zerstörungen anrichteten.
Martin hatte Glück...

Das Kriegsende im Mai 1945 erlebte er in Saint Nazaire.


Das bedeutete Gefangenschaft unter französischer Hoheit, die aber für ihn weiteren Einsatz auf See mit sich brachte. Die Expertise der Besiegten sollte zeitnah in Wert gesetzt werden, um rasch wieder einen ungestörten zivilen Schiffsverkehr vor der französischen Küste zu ermöglichen.



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Nunmehr bestand die Aufgabe im Räumen und Unschädlich machen der von den Deutschen selbst zur Feindabwehr gelegten Minen - immer noch riskante Manöver. Damit verbunden war aber eine gewisse Mobilität des Bootes und seiner Mannschaft. Zwar wurde seitens der Franzosen die Schiffsausrüstung auf ein technisches Minimum reduziert, was Funkausrüstung und navigatorische Hilfen anbelangte. Nach Beendigung der Minenräumung sollte die Truppe in französische Gefangenenlager verlegt werden. Wagemutig reifte unter ihnen der Plan, diesen wenig rosigen Aussichten durch Flucht zu entkommen – blieb die Frage: wohin?

Mittlerweile ermöglicht das Internet Zugriff auf alte Tageszeitungen. Archive der internationalen Presse sind eine wahre Fundgrube über zurückliegende Ereignisse, so lässt sich auch dieses spektakuläre Abenteuer nachvollziehen. Im Januar 1946 und danach erschienen viele Berichte (ein Original-Faksimile befindet sich im Anhang) über Martins Flucht von Saint Nazaire nach dem neutralen Irland, aus denen hervorgeht, dass auch eine Fahrt Richtung Spanien (damals noch unter der Diktatur Francos) erwogen wurde. Die Route gen Norden schien sicherer, fehlte es doch an hochseetauglicher Navigationsausrüstung: unser Vater musste den Sternen folgen…



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Die Tageszeitung Irish Examiner vom 21.Januar 1946, S.3 enthält eine ausführliche Reportage:


Kriegsgefangene wollen nicht in französisches Lager gehen

15 Deutsche fliehen und landen in der Grafschaft Cork

15 deutsche Kriegsgefangene, die aus St. Nazaire, Frankreich, geflohen waren, landeten am Samstagmorgen in Kinsale. Ihr Schiff, eine kleiner ehemaliger Mienenräumer, landete unauffällig und machte am Pier des Hafens fest, bevor irgendjemand die Identität der Besucher bemerkte. Als aber ihr Skipper Lieut.-Commander Martin Clemen in deutscher Marineuniform mit Hakenkreuz und Eisernem Kreuz an Land ging, gab es große Unruhe. Samstag und gestern erregten das Schiff und seine Besatzung viel Aufsehen.

In einem Interview mit einem "Examiner" -Reporter erklärten die sechs Offiziere, dass sie aus St. Nazaire geflohen waren, hauptsächlich, weil sie in etwa zwei Wochen in französische Gefangenenlager unter der Kontrolle der Armee gehen sollten. Bis dahin hatten sie für die französische Marine in St. Nazaire gearbeitet, und alle waren sich einig, dass sie dort gut behandelt worden waren. Kinsale, das in den Kriegsjahren verzweifelte Seeleute aus vielen Nationen empfing, gab seinen ersten deutschen Besuchern nach ihren Angaben "einen sehr freundlichen Empfang".

Die örtliche Zweigstelle des Roten Kreuzes kümmerte sich um ihre Bedürfnisse, und am Samstag aßen die Deutschen in einem der Hotels in Kinsale. In Dublin wurde gestern Abend festgestellt, dass die Regierung beschlossen hat, die Flüchtlinge nach St. Nazaire zurückzuschicken, sobald Transportmöglichkeiten arrangiert werden können. In der kleinen Kabine des Ex-Minenräumers FN-10, saß der "Cork Examiner" -Reporter an einem Klapptisch und tauschte irische Zigaretten gegen französische (ugh!). Die Offiziere waren bereit, mit ihm über ihre Flucht zu sprechen. "Sie müssen bedenken, dass es noch viel mehr gibt, die einem Lageraufenthalt entkommen wollen."

Von diesen Offizieren, von denen einer ausgezeichnetes Englisch sprach, ein anderer ziemlich gut, ein dritter nur ein paar Worte, aber offensichtlich ohne Verständnisschwierigkeiten, kann die Geschichte der Flucht aus St.Nazaire und die Gründe für die Geschichte zusammengesetzt werden.

Der Hauptsprecher war der Kapitän. Lieut.-Commander Martin Clemen, kleine Statur, langes braunes Haar, Eisernes Kreuz und Hakenkreuz auf seiner Uniform, aber Dr. Heinz Otto, großer, blonder nordischer Typ, hatte viele Einwendungen, meistens beginnend mit: "ganz wichtig sei…..“

Lieut.-Commander Clemen begann das Interview mit dem Wunsch "ein kleines Missverständnis" zu korrigieren. Als er einen Zeitungsbericht über die Landung seiner Crew in Kinsale las, fand er den Hinweis auf "entsetzliche Lebensmittelbedingungen" und sagte, dies sei nicht korrekt.

Dr. Otto unterbrach, um ausführlich zu erklären, dass die fünfzehn Flüchtlinge unter Aufsicht der französischen Marine gewesen waren, die sie gut behandelt hatten, aber sie sollten bald in Kriegsgefangenenlager der französischen Armee verlegt werden.

"Wir können die französische Marine nur loben, aber die französische Armee - schrecklich."

Wenig später sprach Dr. Otto über die Bedingungen in den Gefangenenlagern der französischen Armee. Er sagte, er musste sie von Berufs wegen besuchen. Tausende Männer waren in ihnen gedrängt. Die Männer mussten auf dem Boden großer Flugzeughangars mit nur einer Decke schlafen. Nur wenige hatten irgendwelche Habseligkeiten - sie waren ihnen bei der Kapitulation Deutschlands weggenommen worden, einige waren ohne ausreichende Kleidung. Die meisten waren unterernährt. "Ich habe mich um sie gekümmert, aber was konnte ich tun? Keine medizinische Versorgung. Zweitausend Männer, von denen tausend keine Arbeit verrichten konnten, einhundert von ihnen kriegsversehrt."

Lieut.-Commander Clemen setzte die Geschichte fort: "Wir waren alle im Marinestützpunkt St. Nazaire der französische Nationalmarine und arbeiteten für die Franzosen, einige von uns in Minenräumern. Unsere Tätigkeit würde bald vorbei sein und sollten in ein Gefangenenlager kommen. Wir wollten nicht gehen. Wir wollten jahrelang nicht hinter den Zäunen bleiben. Einige sagten, wir würden dort fünf Jahre sein, um den Wiederaufbau Frankreichs zu unterstützen.

Die französische Regierung bemüht sich, die Bedingungen der Genfer Konvention für Kriegsgefangene zu erfüllen, aber diese Lager ... Also haben wir beschlossen, das Risiko eines Fluchtversuchs einzugehen."

"Niemand ist aus St.Nazaire abgehauen. Die Flucht war wochenlang geplant, denn wir mussten Essen sparen und genug Treibstoff an Bord bekommen."

"Dieses Boot war an einem Kai in einer der kleinen Buchten festgemacht, vergangenen Mittwochabend haben sind wir in der Dunkelheit an Bord gegangen." Nach weiteren Einzelheiten gefragt, lächelte der Anführer der kleinen Gruppe und sagte, dass noch viele auf eine Gelegenheit der Flucht warteten. Er sagte jedoch, dass er, Dr. Otto und Steuermann Heinz Preusche am meisten mit der Planung zu tun hatten, aber alle fünfzehn hatten ihre eigene Aufgabe. "Es war bitterkalt, als wir gingen waren - 14 Grad Fahrenheit (das sind -10° C! tc), keiner wollte fehlen, also kamen wir unbemerkt davon.

Zuerst fuhren wir von St. Nazaire 300 Meilen westlich und dann genau nach Norden. Alles was wir zur Navigation an Bord hatten waren Kompass und Karten - und viel Glück; aber Preusche hat seine Arbeit als Steuermann gut gemacht, und wir bekamen Old Head of Kinsale (atemberaubendes Postkartenmotiv, tc) genau dann in Sicht, als wir es erwartet hatten. Wir haben während der Reise sehr wenig Schiffe gesehen - nur einige am ersten Tag.

"Wir dachten, wir sollten Cork Harbour ansteuern, aber Kinsale sah nett und ruhig aus, also entschieden wir uns, dort statt an einem großen Ort zu landen."

Auf die Frage, wie es um Essen stehe, antworteten die Beamten, dass sie genug gehabt hätten. Das Rote Kreuz tat sein bestes, und sie hatten seit ihrer Landung gute Mahlzeiten. Als der Reporter sie fragte, was ihrer Meinung nach als nächstes mit ihnen passieren würde, gab es nur Achselzucken von allen in der Kabine.

"Wir hoffen, hier interniert zu werden", sagte Lieut.-Commander Clemen, "bis wir nach Deutschland zurückkehren können."

"Wir wollen nicht nach Frankreich zurückkehren - dort gibt es wahrscheinlich sowieso einen besonderen Empfang für uns." Viele der Männer sind verheiratet und haben Familien. Sie sprachen gut von den Amerikanern, in deren Händen sie sich nach Kriegsende für kurze Zeit befanden; von denen bekamen sie einiges zum Überleben, einschließlich Zigaretten. Kürzlich wurden sie auf 40 Zigaretten für vier Monate rationiert. Erst in den vierzehn Tagen vor ihrer Flucht erhielten sie Post von ihren Verwandten in den britischen und amerikanischen Besatzungszonen in Deutschland. Diejenigen mit Familie in der russischen Zone erhielten überhaupt keine Nachrichten und es wurde ihnen gesagt, dass es nutzlos sei dorthin zu schreiben. Steuermann Preusche weiß nicht, ob seine Frau und seine fünf Kinder noch am Leben sind, und seinen jüngsten Sohn hat er überhaupt noch nie gesehen.

Dr. Heinz Otto sagte, er sei erst zehn Tage vor Kriegsende von einer anderthalb Jahre dauernden U-Boot-Fahrt nach Singapur, Niederländisch-Indien (heute: Indonesien, tc) und Japan nach Europa zurückgekehrt. Er habe viele Fotos dabei, darunter Bilder der U-Boot-Besatzung mit japanischen Marineoffizieren; er holte auch so etwas wie ein Notizbuch hervor, das Aufzeichnungen seiner Reisen enthielt. Darin befanden sich Informationen in Japanisch, Deutsch, Englisch und sogar Irisch.

Das Irisch stammte von irischen Amerikanern, die bei den von ihm behandelten US-Streitkräften in Europa gedient hatten.

In der Kabine der FN-10 wurde noch mehr Irisch hinzugefügt. Dr. Otto erhielt das Eiserne Kreuz für seine Aufgabe bei der langen U-Bootfahrt. Steuermann Preusche ist auch Inhaber des Eisernen Kreuzes und Lieut.-Commander Clemen erhielt seine Auszeichnung für Minenräumarbeiten als Kommandeur einer Minensuchflottille.

Dr. Otto sprach von seiner Arbeit und sagte, dass er im Hafen von St. Nazaire alles hatte, was er brauchte, gute Einrichtungen und keine Schwierigkeiten bei der Behandlung seiner Patienten.

"Die Franzosen waren dort sehr gut; aber die Armeelager waren anders." In St. Nazaire hatten die Deutschen verschiedene Aufgaben. Lieut.-Commander Clemen war Verbindungsoffizier; Dr. Otto hat in den P.O.W.-Lagern als Arzt gearbeitet, und Steuermann Preusche war Dolmetscher. Unteroffiziere und Mannschaften arbeiteten unter den Franzosen, da es nicht üblich war, Deutsche unter eigenen Offizieren arbeiten zu lassen.

Die Lage der fünfzehn Offiziere und Männer ist noch ungewiss.



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Am Samstag wurden sie von Mitarbeitern der Collins Barracks, Cork, befragt und das Schiff wurde untersucht. Als festgestellt wurde, dass keine Waffen an Bord und die Männer unbewaffnet waren, stellten sie fest, dass nunmehr das Justizministerium zuständig sei; die Verantwortung läge jetzt vorläufig bei den Zivilbehörden, die sie als illegal eingereiste Ausländer behandeln sollten.

Das kleine Schiff und seine Besatzung werden ständig überwacht. Die fünfzehn Deutschen setzen sich aus sechs Offizieren, einem Quartiermeister, drei Unteroffizieren, einem deutschen Ingenieur und einem Matrosen der Handelsmarine, einem Funker und zwei Seeleuten der deutschen Marine zusammen. Im einzelnen: Lieut.-Commander Martin Clemen; Mitarbeiter Dr. Heinz Otto, Lieut. für Meerestechnik Alfred Thieme; Lieut.-Commander Wilhelm Liszt; Steuermann Heinz Preusche; Hafeningenieur Carl Rothoefft; Quartiermeister Müller; Unteroffiziere Willi Bastian; Alfons Behrans; Alfred Ebert; Funker G. Fehrmann; Mannschaftsdienstgrade Ludwig Jokobs; Werner Mayer; Ingenieur Johann Bulloweit und Henri Feddersen von der Handelsmarine. Quartiermeister und Steuermann Müller war vorher für die FN-10 verantwortlich gewesen.

Das Boot FN-10 misst 78 Fuß Länge 23 Fuß Breite und 70 Tonnen. Es wird mit einem 120 PS-Motor angetrieben, der eine Geschwindigkeit von 8 Knoten ermöglicht. Seine Besatzung war während des Krieges zwischen 15 und 18 Mann, es trug mehrere Flugabwehrgeschütze sowie Minenräumausrüstung. Nach Kriegsende wurde es von den Franzosen entwaffnet.


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Die Zeit in Kinsale hatte für unseren Vater neue Bekanntschaften mit sich gebracht. Ein irischer Journalist, Dick Roche, interessierte sich für sein Schicksal. Beide tauschten sich auf Spaziergängen in der Umgebung aus. Aus diesem Kontakt entwickelte sich eine Brieffreundschaft, die den Reporter viel später zu einer Fortsetzungsgeschichte veranlasste. In der Tageszeitung Irish Independant erschien Anfang Dezember 1967, einen Monat nach Martins Tod, der Zeitungsartikel „Sweeper of Souls“ – wörtlich „Der Seelenkehrer“. Wenngleich der Autor hinsichtlich Detailgenauigkeit (bezüglich der Zeit nach dem Krieg) nicht ganz richtig liegt, spiegelt diese Geschichte ein weiteres Mal den nachhaltigen Eindruck, den unser Vater außerhalb der eigenen Familie hinterlassen hat.


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Damit aber nicht genug: 1996 erschien in derselben Zeitung unter der Rubrik „Vor 50 Jahren“ eine Erinnerungsnotiz über die Flucht, und am 30.Januar 2006 nochmals eine Zusammenfassung der Story in der Spalte An Irishman’s Diary. Darin, wie mir scheint, ein bemerkenswertes Detail zu der Freundlichkeit, mit der damals die Deutschen in Kinsale empfangen wurden:

„Eine der vielen Einladungen der Deutschen stammte von Frau Pamela Kenneth vom Rampart House in Kinsale, deren Bruder, ein Hauptmann der britischen Armee, von den Deutschen in Italien gefangen genommen und dort als Kriegsgefangener festgehalten worden war. Er versuchte zu fliehen, wurde erneut gefasst und dann in ein spezielles Kriegsgefangenenlager geschickt. Dort wurde er gut behandelt, und Frau Kenneth antwortete, indem sie Martin Clemen und seine Mannschaft zum Tee einlud.“ (Übersetzung tc)



Nach seiner Entlassung aus der französischen Kriegsgefangenschaft 1947 nahm Martin Clemen in Göttingen das Studium der ev. Theologie auf und war bis zu seinem Tod 1967 Pastor in Wieda/Südharz (bis 1957), Salzgitter-Thiede (bis 1964) und Braunschweig.




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